Steigende Ansprüche an Elternschaft setzen Familien unter Stress
10.03.2022

Steigende Ansprüche an Elternschaft setzen Familien unter Stress

„Es sind steigende Anforderungen, eine steigende Diversität von Familien und die steigende soziale Ungleichheit“, zitierte die Sozialwissenschaftlerin Dagmar Müller, Geschäftsführerin des 9. Familienberichts der Bundesregierung vom Deutschen Jugendinstitut München, aus dem Bericht. Sie war per Videoschalte aus München zugeschaltet. „Steigende Ansprüche und Anforderungen sind die Folge einer Intensivierung von Elternschaft: die Kindzentrierung der Familien, der Anspruch, das Kind partnerschaftlich zu erziehen, der Einfluss von Medien und Digitalisierung, die Bedeutung von Bildung für gesellschaftliche Aufstiegschancen, der innerfamiliäre Abstimmungsbedarf, wenn beide Eltern berufstätig sind, das alles sind Stressfaktoren“, zählt Müller auf. Was die Gesellschaft und die Politik von Eltern erwarte, habe man ja besonders während der coronabedingten Kita- und Schulschließungen gesehen.

Podiumsgespräch der Bischöflichen Stiftung für Mutter und Kind beleuchtet Situation von Familien

„Dazu kommen besondere Herausforderungen durch eine steigende Diversität von dem, was Familie heute kulturell und strukturell ist.“  Zwar sei das Familienmodell „Mutter, Vater, ein bis zwei Kinder“ immer noch das am häufigsten gelebte, aber die Zahl der Alleinerziehenden, der Patchwork- oder Stiefkindfamilien, der Familien mit sich kulturell stark unterscheidendem Migrationshintergrund, der Pflegefamilien und der gleichgeschlechtlichen Ehen mit Kindern nähmen stark zu. Diese diversen Familienformen bedeuteten auch diverse Herausforderungen. „Und natürlich setzt die steigende soziale Ungleichheit Familien massiv unter Druck. Für sozio-ökonomisch schlechter gestellte Familien bedeutet die ständige Sorge ums Geld massiven Stress“, erläuterte Müller. „Nachweisbar ist in den vergangenen Jahren die Zeit gestiegen, die sowohl Väter als auch Mütter mit ihren Kindern verbringen, die Mütter auffallend mehr als die Väter. Dennoch, wenn man Eltern befragt, sagen sie, dass sie denken, sie verbringen zu wenig Zeit mit ihren Kindern.“

Birgit Mock, Vizepräsidentin und familienpolitische Sprecherin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Vizepräsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes sieht auch die Arbeitgeber in der Verantwortung: „In jeder Erwerbsbiographie gibt es verschiedene Phasen. Wir brauchen atmende Lebensläufe und die Flexibilität der Arbeitgeber. Es braucht ein Recht aus Teilzeit mit Rückkehrrecht zur Vollzeit. Und die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern in Führungspositionen ist nicht akzeptabel“, fordert Mock. Care-Arbeit, die Pflege älterer Angehöriger und das Erziehen und Versorgen von Kindern, dürften nicht dazu führen, dass bei gleichzeitiger Berufstätigkeit eine gute Selbstfürsorge nicht mehr möglich sei. „Ein Leben findet auch außerhalb des Erwerbslebens statt. Wenn jemand in eine Krise gerät, dann müssen Arbeitgeber ihn oder sie freistellen. Und die Kultur in Team muss so sein, dass KollegInnen bereit sind, das mitzutragen.“ Um Familien zu stärken sei auch die Kirche als Arbeitgeber gefordert, so Mock.

Der Psychologe Bernhard Speidel, Erziehungs-, Ehe- und Lebensberater im Caritas-Zentrum Pirmasens sorgt sich um die Kinder und Jugendlichen: „Ich bin noch nie vorher so vielen Kindern und Jugendlichen in Not begegnet. Sie sind ängstlich und depressiv, manchmal auch aggressiv, verweigern des Schulbesuch oder betäuben sich mit Drogen“, berichtete es aus seiner beruflichen Praxis. „Familien brauchen Liebe, Freude, Mitgefühl. Und Eltern brauchen strake Nerven für Kinder, die manchmal sehr fordernd sein können. Und wir sollten den Stressfaktor Handy und Computer nicht unterschätzen. Diese Geräte verändern das Familienleben enorm.“ Er plädierte dafür unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung auszuhalten und auszuhandeln und in den Mittelpunkt die Gewissheit zu stellen: Ich bin für dich da! Sowohl die Partner untereinander, als auch die Eltern für das Kind. Speidel sprach sich auch stark für das Erleben von Gemeinschaft aus: „Austausch, Gruppenangebote und -aktivitäten, Mitmachen im Sportverein und das Erfahren von Zusammenhalt können Familien manchmal mehr stärken, als Fachleute aus der Beratung. Durch den Rückzug ins Private während der Pandemie ist der Druck auf Familien noch mehr gewachsen.“

Bischof Karl-Heinz Wiesemann fasste am Ende zusammen: „Wir erleben gerade gewaltige gesellschaftliche Umbruchprozesse, die in den Familien bewältigt werden müssen. Gleichzeitig sind wir von einem viel zu negativen Menschenbild geprägt. Der Mensch muss nicht immer optimiert werden.“ Auch die Religion habe ein negatives Menschenbild als den sündigen Menschen geprägt. „Aber Menschen wollen von innen heraus positiv wirken. Die Schöpfung steht vor dem Sündenfall. Für uns bedeutet das, dass wir die Vielfalt der Lebenswirklichkeiten von Familien annehmen und wertschätzen müssen.“ Er wünsche sich für Familien mehr Mut zur Wirklichkeit, die immer eine gebrochene Wirklichkeit sei, und dass Menschen sich nicht dem Druck einer Überidealisierung aussetzen. „Wir sollten den Menschen etwas zutrauen und wir sollten der Gemeinschaft etwas zutrauen, und als Kirche für die Menschen da sein, gerade in der Krise.“

Text und Foto: Melanie Müller von Klingspor (Caritas) / Klaus Landry

Bildunterschrift:

Marlies Kohnle-Gros, Vorsitzende der Bischöflichen Stiftung für Mutter und Kind, die Moderatorin der Diskussion, Kerstin Hofmann von der Akademie des Heinrich-Pesch-Hauses, Bernhard Speidel, Psychologe des Caritas-Zentrums Pirmasens, Birgit Mock Vizepräsidentin des Zentralkomitees des deutschen Katholiken und der Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann sprachen über die besonderen Herausforderungen für Familien und den Druck, unter dem sie stehen.

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