„Demokratie braucht Religion“
02.03.2023

„Demokratie braucht Religion“

Bildungsprozesse, die auf die Selbstentfaltung der Person und das Gedeihen der demokratischen Gesellschaft zielen, wurzeln in der Anerkennung existentiell-ernster Anliegen junger Menschen und bewähren sich auf verschlungenen Wegen. Diesen Impuls setzte der Jesuitenpater Klaus Mertes am 27. Februar 2023 im Rahmen eines Lunchgespräches mit Vertretern aus Schule, Politik, Kirche und Stiftungen im Herzen Hamburgs. Hintergrund ist die Bildungsinitiative „HumanismusPlus“ des Zentrums für Ignatianische Pädagogik (ZIP).

Zentral sei erstens, so Mertes im Rekurs auf den Soziologen Hartmut Rosa, dass Schule einen „Resonanzraum“ für die Auseinandersetzung mit prägenden Themen von Coronapandemie bis Ukrainekrieg biete. In einer Zeit „rasenden Stillstands“, in der sich die Lebensvollzüge beschleunigten, die Fortschrittsperspektiven aber verloren gingen, müsse eine Kultur der Stille und des Zuhörens kultiviert werden, die erst Selbstwerdung ermögliche. Hier stellten religiöse Riten wertvolle Ressourcen zur Verfügung.

Zweitens dürfe Bildung nicht eng durch ihren Nutzen bestimmt werden. Selbstredend seien Schlüsselkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen unabdingbar, nur erschöpfe sich Bildung nicht darin. Als biografisch bedeutend erweise sich gerade das „Über-Nützliche“ (Thomas Mann), wie etwa das Musizieren im Schulorchester, das zwar um seiner selbst willen betrieben werde, in einer Art List der Vernunft aber darüber hinausgehende Fähigkeiten wie Ausdrucksvermögen, Qualitätsbewusstsein und Gemeinschaftssinn fördere.

Drittens schließlich wandte sich Mertes der jüngsten Berliner Debatte um „konfrontative Religionsbekundungen“ in Gestalt von Mobbing oder Beschimpfungen zu. Daran anknüpfende Religionskritik sei durchaus begrüßenswert, weil sie ihre Adressaten in deren religiöser Identität überhaupt ernst nehme, statt sie als Opfer eines strukturellen Rassismus zu apostrophieren und damit ihrer Handlungsmacht zu berauben. Es greife jedoch zu kurz, Religion bloß unter dem Stichwort der Gewaltprävention zu verhandeln und damit ihre allgemeine formative Kraft mit Blick auf Individuum und Gesellschaft zu verkennen.

Ansgar Wimmer, Vorstandsvorsitzender der Alfred-Toepfer-Stiftung, erinnerte in seiner Replik auf Mertes an das Böckenförde-Diktum und beschrieb den Beitrag des Religiösen zum demokratischen Staat als ein „Schöpfen aus der Kontemplation“, den einladenden Ruf „Komm zur Ruhe und hör zu“.

Wiederum mit Hartmut Rosa gesprochen, ließe sich also resümieren: „Demokratie braucht Religion“. Und nicht zuletzt braucht sie Religionswissen, um einen produktiven Umgang mit öffentlichkeitswirksamen glaubensbezogenen Phänomenen zu finden.

Dem Hamburger Lunchgespräch waren Veranstaltungen in Mainz, München und Berlin vorangegangen. Am 23. März folgt eine weitere in Düsseldorf. Ziel dieser „Roadshow“ ist es, die Bildungsdebatte in den politischen Raum zu tragen und Mitstreiter zu finden. Es geht um die Frage, was Vertreter aus Politik, Verwaltung und Bildung tun können, um das Thema Persönlichkeitsentwicklung voranzutreiben. Grundsätzlich gilt es dabei, die wesentlichen Hindernisse, Chancen und Stellschrauben zu identifizieren. Dafür wird ein gemeinsamer Appell „Charakter zählt! Thesen für eine zeitgemäße Persönlichkeitsbildung“ entwickelt, der nicht nur in Landeshauptstädten, sondern am 14. Juni 2023 unter der Schirmherrschaft von Thomas Rachel (kirchenpolitischer Sprecher der CDU) auch im Bundestag vorgestellt werden wird.

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