Eine Woche lang ziehen die Erzähler*innen mit ihren Geschichten durch die Metropolregion Rhein-Neckar und begeistern jung und alt. Die Eröffnung, eine lange Nacht der Geschichten und der abschließende Familientag finden traditionell im Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen statt.
Das war in meiner Kindheit. Ich erinnere mich besonders daran, dass meine Mutter im Advent meinen Brüdern und mir jeden Abend Geschichten vorgelesen hat. Und samstags nach dem Baden saßen wir im Wohnzimmer und haben Märchenplatten gehört. Da hat mir besonders die Stelle bei „Dornröschen“ gefallen, wo der Koch dem Küchenjungen eine Ohrfeige geben will und mitten in der Bewegung eingeschlafen ist. Dieses gemeinsame Hören von Märchenschallplatten mit meinen Brüdern ist für mich heute eine ganz prägende Erfahrung. Ich kann mich noch an die Musik und die Stimmen der Erzählenden erinnern. Und ich denke gerne an die Erzieherin im Kindergarten, die uns im Stuhlkreis die „Kleine Hexe“ von Ottfried Preußler vorgelesen hat.
Neben dem Inhalt der Geschichten das gemeinsame Zuhören mit anderen Kindern, in der Kita, mit meinen Brüdern. Während ich die Worte gehört habe, sind im Kopf Bilder entstanden und das Interesse an Büchern. Das war etwas anderes als beim Fernsehgucken. Und es entstehen Emotionen und Empathie: Mit der Kleinen Hexe, die hexen will und nicht darf, habe ich mitgefiebert.
Erzählen ist das älteste Medium der Menschheit, über Erzählen wurden Werte, Normen, Erfahrungen und Traditionen vermittelt. In dieser so stark frequentierten medialen Welt, in der wir unheimlich viele Sinneseindrücke haben, macht Erzählen einen Unterschied, weil Erzählen u. a. davon lebt, was zwischen Erzählendem und Zuhörenden passiert. Das ist ein besonderer Moment und geschieht in Gemeinschaft. Ich bin mit dem Erzähler an der Welt beteiligt, die da gemeinsam entsteht. Es entwickelt sich eine Bindung, ein Kontakt, wenn ich erlebe, wie der Erzähler mit Mimik, Gestik oder dem Einsatz von Gegenständen erzählt.
Das Internationale Erzählfest findet in diesem Jahr zum 10. Mal statt. Unter anderem reist das Erzählzelt durch die Metropolregion Rhein-Neckar und begeistert Menschen allen Alters.
Erzählen ist von der Genese her ein öffentliches Medium. Früher wurde auf Marktplätzen erzählt, in Dorfgemeinschaften, begleitet von Tanz und Musik. Es wurde viel improvisiert. Jede Geschichte ist beim zweiten Erzählen etwas anders. Erzähler sind im guten Sinne Volksbildner und auch Sprachförderer. Und Erzählen ist immer mehr gewesen als Unterhaltung. Es hat Bildungscharakter, weil mit Geschichten auch immer Werte und Wissen vermittelt wurden. Geschichten bauen Brücken zwischen verschiedenen Kulturen, sie tragen zum kulturellen Wissen und zur Integration bei: sich selbst und andere Menschen besser verstehen. Deshalb bietet die Erzählwerkstatt im Heinrich Pesch Haus seit 2005 Fortbildungen für Fachkräfte und Interessierte an, um die Kompetenz des freien Geschichtenerzählens zu lernen und die Erzählkultur in den Einrichtungen zu fördern. Wir haben die nachhaltige Wirkung auch wissenschaftlich erhoben und ausgewertet.
König Anoschirwan, den das Volk den Gerechten nannte, wandelte einst zur Zeit, als der Prophet Mohammed geboren wurde, durch sein Reich. Auf einem sonnenbeschienenen Hang sah er einen ehrwürdigen alten Mann mit gekrümmten Rücken arbeiten. Gefolgt von seinem Hofstaat trat der König näher und sah, dass der Alte kleine, gerade ein Jahr alte Stecklinge pflanzte. „Was machst Du da?“, fragte der König. „Ich pflanze Nussbäume“, antwortete der Greis. Der König wunderte sich: „Du bist schon so alt. Wozu pflanzt Du dann Stecklinge, deren Laub Du nicht sehen, in deren Schatten Du nicht ruhen und deren Früchte Du nicht essen wirst?“ Der Alte schaute auf und sagte: „Die vor uns kamen, haben gepflanzt, und wir konnten ernten. Wir pflanzen nun, damit die, die nach uns kommen, ernten können.“
Orientalische Anekdote
Ja, da war eine geradezu magische Situation. 2019 war eine professionelle Erzählerin abends bei uns im Park mit ihrer Geschichte an der Stelle, wie ein Wind aufkommt und in den Bäumen säuselt. Zeitgleich fing ein echter Wind an, der durch die Blätter der Bäume fuhr. Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Oder wenn eine professionelle Geschichtenerzählerin Kindern zweisprachig erzählt, Kinder selbst anfangen zu erzählen, und wir erleben, welche förderlichen Effekte dies hat.
Ja. Wenn ich zum Beispiel eine Rede oder einen Vortrag halte, baue ich narrative Elemente ein oder beginne mit einer Kurzgeschichte. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen ist dabei viel höher, weil die Geschichten Modellcharakter haben. Wir lernen daraus, fangen an, nachzudenken und sie weiter zu spinnen.
Nicht als Geschichtenerzählerin, aber eben in Vorträge. Im Privaten erzähle ich gerne Kindern Geschichten.
Mir gefallen Geschichten, die nahe an der Wahrheit sind, die Kuriositäten des Lebens charmant, überraschend oder klug verpacken. Wie zum Beispiel die Geschichte von Anansi und wie die Weisheit in die Welt kam. Oder vom ewigen Leben, in der ein alter Mann Nussbäume pflanzt, deren Wachsen er nicht mehr erleben wird. Ich schätze frei erzählte biblische Geschichten, denn auch das Christentum ist eine Erzählgemeinschaft.
Wir wissen aus Rückmeldungen, dass wir auf ein großes Interesse und Bedürfnis von Menschen treffen, junge und alte gleichermaßen. Das ist das Besondere am Erzählen – es ist ein Medium, das alle anspricht. Wenn ich an das erste Erzählfest 2007 zurückdenke, hätten wir nie gedacht, dass wir mal zehn Feste veranstalten dürfen und eine so große Reichweite über die Metropolregion Rhein-Neckar hinaus haben – das wäre ohne die Unterstützung der BASF nicht möglich gewesen.
Der Höhepunkt ist für mich immer die Lange Nacht. Wir waren dann eine Woche mit Geschichten in der Region unterwegs und kommen im Park des Heinrich Pesch Hauses zusammen. Und ich freue ich mich auch auf den Familientag am Sonntag, mit dem das Erzählfest ausklingt. Den Geschichten im Heinrich Pesch Haus ein Zuhause zu geben, ist eine Freude für das gesamte Team.
Interview: Dr. Anette Konrad