„Wir haben uns für die Seite des Lebens entschieden. Dort drüben ist die Seite des Todes“, sagt Bauer Oweimar Burbano und zeigt in die Richtung einer gegenüberliegenden Bergkette. Dort werden in 60 Kilometer Entfernung Kokasträucher angebaut. Der studierte Agraringenieur hat sich gegen ein Stadtleben mit Bürotätigkeit entschieden. Gemeinsam mit Familie, Freunden und der Hilfe der Sozialpastoral, einer Art kolumbianischen Caritas die von Misereor unterstützt wird, bewirtschaftet er wenige Hektar Land. „Es ist ungewöhnlich trocken, der Klimawandel ist bei uns angekommen. Regnet es nicht bald, werden sich beispielsweise die Kaffeebohnen nicht richtig ausbilden.“
Die Kleinbauern von Kolumbien sehen sich einer komplexen Kombination von Herausforderungen gegenüber. Ihre kleinen Landflächen liegen häufig in teils extrem steilen Hanglagen. Wetter und Schädlinge beeinflussen ihre Ernte. Hinzu kommt ein florierender Drogenhandel, der von schwerbewaffneten Guerillas und Paramilitärs betrieben wird. Wie konkret dessen Auswirkungen sind, zeigt sich wenige Orte weiter beim nächsten Projektbesuch: Plötzlich entsteht Unruhe, mehrere Projekteilnehmerinnen eilen zu ihren Fahrzeugen – in ihrem Ort haben ELN-Guerillas eine Ausgangssperre ausgerufen. Und wer nicht bis zur Stichzeit zurück ist, bekommt Probleme.
„Hier auf dieser Brücke hat vor wenigen Jahren ein Massaker stattgefunden. Exekution mit der Motorsäge. Die Menschen mussten ihre Köpfe über das Geländer legen …“, beschreibt Rafael Diaz, Koordinator der Landpastoral, bei der vierstündigen Anfahrt in das abgelegene Gebiet exemplarisch die gewaltsame Geschichte des Landes. Die Ermordeten waren Bauern, die nicht länger Drogen anbauen wollten.
„Koka“ ist ein Wort, das in Kolumbien täglich zu hören ist. Die Pflanze, aus deren Blättern Kokain hergestellt wird, hat zigtausenden Menschen den Tod gebracht und sorgt nach wie vor für viel Leid. Die Kokasträucher werden zwar in abgelegenen Gebieten angebaut, werden allerdings ansonsten nicht weiter versteckt und sind durch ihre hellgrün leuchtende Farbe eindeutig aus der Luft erkennbar. Dem amerikanischen Vorschlag die Felder aus der Luft chemisch zu zerstören verweigert sich die Regierung, da so die zugrundeliegenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht gelöst würden und im Gegenteil neue Konflikte entstehen könnten. In den Achtzigerjahren entstand eine weitläufige Drogenindustrie, als ehemalige Guerillas und Paramilitärs sich zunehmend von ihren politischen Zielen entfernten und vollends kriminell wurden. In diesem Zuge wurde nicht nur der Erzbischof von Cali ermordet, sondern auch viele weitere Priester, Ordensschwestern und -brüder.
„Doch Kolumbien ist kein Land der Märtyrer – Märtyrer sind diejenigen Menschen, die sich um die Ärmsten kümmern“, so Kardinal Luis José Rueda Aparicio. Das Ungleichgewicht im Land hat er unmittelbar vor Augen. Sein Bischofshaus steht im Zentrum von Bogota, am Plaza de Bolívar – umrandet vom Kongress der Republik sowie Justizpalast, Rathaus und Kathedralkirche. „Bei der letzten Präsidentschaftswahl musste ich meinen Mund mit einem Tuch verhüllen. Das Tränengas ist bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten über den gesamten Platz gezogen.“
Das Gefälle zwischen arm und reich ist gewaltig. Kolumbien verfügt über Bodenschätze wie Öl und ein enorm fruchtbares Land mit einer hohen Biodiversität. Dennoch haben 20 Prozent der Bevölkerung nicht genug zu essen, weitere 20 Prozent wurden in den letzten Jahren von ihrem Land vertrieben. „Ein Teil der politischen Klasse ist krimineller, als die Kriminellen selbst“, so das nüchterne Fazit von Pater Javier Giraldo, einem anerkannten Menschenrechtsverteidiger. „Ein Beispiel: 16.000, aufgrund von Drogengeschäften beschlagnahmter Immobilien, sind umgehend in den Besitz von Politikern übergegangen.“
Dennoch ist die schlimmste Phase des Krieges vorüber, seit die FARC ihre Waffen abgegeben hat. Die Aufarbeitung der Vergangenheit wird trotz einer unruhigen Gegenwart engagiert betrieben. Das Schicksal der „falsch Positiven“ ist exemplarisch hierfür. Um Erfolge gegenüber den Guerillas vorweisen zu können, tötete das kolumbianische Militär über 1000 unschuldige Zivilisten. Die Leichen wurden dann als „Guerillas“ präsentiert. Pater Francisco de Roux leitete die Wahrheitskommission, die auf tausenden von Seiten die Geschehnisse dokumentiert. „Keiner ist aus diesem Krieg unbeschadet hervorgegangen. Jeder ist davon betroffen oder kennt jemanden. Alle Seiten müssen miteinander reden, einander vergeben und sich versöhnen, anders geht es nicht.“
Im Zentrum von Bogota unterstreicht die Ausstellung „Fragmentos“ der Künstlerin Doris Salcedo eindrucksvoll diesen Ansatz. Hier wurden rund 40 Tonnen an Waffen, die die FARC-Guerillas im Rahmen der Friedensverhandlungen abgegeben hatten, eingeschmolzen und zu hunderten, jeweils 40 Kilogramm schweren, Bodenplatten verarbeitet. Dabei wurde das Muster der Oberfläche von Frauen eingehämmert, die im Krieg von sexueller Gewalt betroffen waren. Ihr einhelliger Tenor: „Wir vergeben den Tätern – aber vergeben heißt nicht vergessen. Was uns widerfahren ist, darf nie wieder passieren.“
Alexis, der Junge vom Poster der Misereor-Fastenaktion, blickt zuversichtlich in die Zukunft. Er geht seit kurzem auf eine weiterführende Schule. Geht es nach dem Wunsch seiner Familie, wird er eines Tages voll in die Landwirtschaft einsteigen. Aida Mataboy, die Mutter von Alexis, ist froh dank der Sozialpostoral den Start mit dem eigenen Hof geschafft zu haben: „Mein Bruder war Wachmann in Bogota und wurde dort ermordet. Hier auf dem Land können wir in Frieden leben.“
Schon jetzt hilft Alexis bei der Bewirtschaftung der kleinen Flächen in Hanglage mit: Es werden zum Beispiel Kaffee und Zuckerohr angebaut, Bananen und Orangen sowie Meerschweinchen gezüchtet, die ähnlich wie Hühner dem Verzehr dienen. Dabei wurde unter agrarökologischen Gesichtspunkten eine Kreislaufwirtschaft etabliert, bei dem die Meerschweinchen Gräser vom Feld essen, ihre Exkremente von Regenwürmern zersetzt werden, was dann wiederum Dünger für die Pflanzen ergibt.
Weniger hundert Meter weiter wohnt Claudia Zamudio, die sich seit einigen Jahren engagiert in der Sozialpastoral einbringt. „Als wir wussten, dass wir Eltern werden würden war klar, dass unsere Familie einen guten Platz zum Leben brauchen würde.“ Ein Jahr als Agrarhelferin in Ecuador hatte ihr dabei gezeigt, dass sie lieber eigene Früchte ernten möchte – und so führte sie das Heimweh schnell wieder nach Kolumbien zurück. Hier wartete ein Stück harte Arbeit auf sie: Es galt eine Agaven-Monokultur mittels Erweiterung durch Tomaten, Bohnen, Kaffeepflanzen und vielen weitere Früchte so umzustellen, dass sowohl die Selbsternährung, als auch ein Handel mit den eigenen Feldfrüchten möglich wurde.
Bei der Umstellung hat die Sozialpastoral geholfen und ihr Wissen gibt Claudia seither auch anderen weiter. So wurden beispielsweise Sparvereine ins Leben gerufen, deren Mitglieder regelmäßig Beiträge einzahlen. Benötigt dann einer der Einzahler eine besonders große Geldsumme für eine Investition, kann er auf die Mittel zugreifen. „Nach dem Tod meines Mannes hat mich die Sozialpastoral aufgefangen – heute betreibe ich eine gut funktionierende Zucht von Meerschweinchen die ich sowohl verzehrfertig anbiete, als auch lebend verkaufe“, so eine sichtlich bewegte Bäuerin.
Bei Bauer Oweimar Burbano tauschen sich benachbarte Bäuerinnen und Bauern über die Funktionsweise ihrer Erzeugergemeinschaft aus. Über sogenannte „Lebenspläne“ haben sie sich systematisch organisiert und strukturiert. Ein Lebensplan fängt bei der einzelnen Person an: „Was sind meine Ziele?“ In der Folge wird das Konzept auf die Familie und auf die übergreifende Gemeinschaft angewendet. „Lieben heißt sich kümmern“ fasst eine Bäuerin eine zentrale Erkenntnis zusammen. Doch es geht um mehr als Kalendersprüche: Mit Disziplin und gegenseitiger Motivation werden klar definierte Ziele umgesetzt. Ein Baustein hierfür sind unter anderem detailreiche Karten, auf denen für bestimmte Pflanzenarten besonders vorteilhafte Böden und Lagen erfasst und aufeinander abgestimmt werden.
„Kolumbien erlebt einen Wandel hin zum Frieden“, so Bischof Juan Carlos Barreto, Präsident der bischöflichen Kommission für Sozialpastoral. Doch auch wenn die schlimmsten Kämpfe zwischen Guerillas, Paramilitärs und Militär nun vorüber sind, die auch hundertausende zivile Opfer mit sich brachten, seien Resignation und Niedergeschlagenheit weit verbreitet. Immer wieder wurden zwar Ergebnisse bei Friedensverhandlungen erzielt, aber häufig scheiterte oder verzögerte sich die Umsetzung in die Praxis. „Die Menschen leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung“, berichtet Pater Rafael Castillo Torres, Direktor des Nationalen Sekretariats für Sozialpastoral. Daher her sei es nötig als Kirche eine starke, friedensvermittelnde Rolle einzunehmen. „Regierungen kommen und gehen, die Kirche bleibt – und muss zwischen allen Seiten vermitteln“.
Die Eindrücke der Misereor-Delegation, der unter anderem der Freiburger Erzbischof Stephan Burger, der Speyerer Weihbischof Otto Georgens und Misereor-Geschäftsführer Pirmin Spiegel angehörten, sind vielfältig. Die Gastfreundschaft der Bauern und Bischöfe, Kardinäle und kirchlichen Mitarbeiter war überwältigend. Im offenen Austausch mit den Menschen vor Ort konnte sich die Delegation mit eigenen Augen davon überzeugen, was Misereor bereits bewirkt hat und welche weiteren Herausforderungen bestehen. Ein Teil der kolumbianischen Gesprächspartner wird in den nächsten Tagen und Wochen zum Gegenbesuch nach Deutschland kommen, um dort von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen zu berichten. Nach zehn Tagen in Kolumbien, als die Delegation von Misereor abreist, regnet es kräftig. Bereits zuvor hatte Bauer Oweimar gemeldet, dass auch bei ihm der Regen begonnen hatte – die Ernte ist gesichert.
Text/Bild: Pressestelle Bistum Speyer