Die Nacht der 1.000 Augen
17.09.2021

Die Nacht der 1.000 Augen

Wenn Holzfiguren plötzlich zum Leben erwachen, Baumwurzeln sich auf Wanderschaft begeben und Fenster und Spinnräder miteinander sprechen, dann ist Erzählfest-Zeit. „Wir sind auf viele glückliche Ohren gestoßen. Es war so schön, dass wir wieder unsere Geschichten erzählen konnten, denn es war ein Hungerjahr für die Kultur“, blickte Erzählerin Selma Scheele auf das IX. Internationale Erzählfest zurück.

IX. Internationales Erzählfest beendet – Erzählkünstlerinnen und –künstler begeisterten fünf Tage lang Kinder und Erwachsene in der Metropolregion

Als künstlerische Leiterin des Fests hatten sie und Susanne Tiggemann viel Freude an der Vorbereitung des Fests. Der Dank des gesamten Erzähler-Teams galt der BASF SE, die das Fest unterstützt hat, aber auch dem Organisations-Team des Heinrich Pesch Hauses, das in dieser Zeit ein solches Fest auf die Beine gestellt habe.

Wie ein Wunder

„Geschichten sind eine wunderbare Inspirationsquelle“, sagte Ulrike Gentner. Für die stellvertretende Direktorin des Heinrich Pesch Hauses war es mit Blick auf die Pandemie „wie ein Wunder, dass wir jeden Tag Geschichten erzählen konnten“. Sie dankte den zehn Erzähler*innen, die fünf Tage lang in drei Bundesländer, an 19 Orten und in 37 Kitas, Schulen und sozialen Einrichtungen ihre Zuhörer*innen mit auf eine Reise in die Welt der Fantasie genommen hatten, und allen Mitwirkenden.

„Die Nacht hat 1.000 Augen“ hieß es zum Finale des Erzählfests im Park des Heinrich Pesch Hauses. Passend zur Location hatten die Erzähler*innen Selma Scheele, Christine Lander und André Wülfing für ihre Zuhörer*innen Geschichten rund um die Nacht und die Natur ausgewählt. Musikalisch begleitet wurde der Abend von Kenan Tülek und Jonathan Sell, die eigens für den Abschlussabend ein passendes Programm für Baglama und Kontra- sowie E-Bass erarbeitet hatten.

Erzählfest Scheele Lander

Es war einmal …

Und dann startete der Erzählabend mit drei Männern, einem Schreiner, einem Schneider und einem Kaufmann, die bei einem schweren Schneesturm in einer Hütte festsaßen. „Um die Zeit zu überbrücken, erzählten sie sich Geschichten – und das machen wir jetzt auch“, sagte Selma Scheele. Die Zuhörer*innen erfuhren zum Beispiel von Erzählerin Christine Lander, warum man Respekt vor Bäumen haben und generell nicht zu habgierig sein sollte: Da war ein mächtiger und sehr reicher Mann, der für seine Tochter einen Palast bauen wollte. Seinem Vorhaben stand allerdings ein riesiger Baum im Weg, der von den Menschen als Zuhause ihres Gottes verehrt wurde. Entgegen aller Warnungen fällte der reiche Mann den Baum. Der Baumgott flüsterte daraufhin. „Du hast mir mein Zuhause genommen. Meine Rache wird ein Leben überdauern“. Der Mann wurde fortan von einem unstillbaren Hunger geplagt, der ihn arm machte und schließlich dazu brachte, sich selber aufzuessen.  

Selma Scheele Erzählfest

Manche Geschichten versteht man auch, selbst wenn sie in einer unbekannten Sprache erzählt werden. Zweisprachig, nämlich auf Türkisch und auf Deutsch, erzählten Selma Scheele und Christine Lander dann die Geschichte vom Kesselflicker, der bei einer Riesin landet und ein riesengroßes Loch in ihrem Kessel flicken soll. Voller Verzweiflung beginnt er zu weinen. Mit viel Tempo, großen Gesten und lautmalerisch erzählten die beiden, wie nacheinander der Stuhl, der Ofen, die Lampe, das Spinnrad, eine Krähe und ein Baum vom Weinen des Mannes und den Geräuschen der Gegenstände gestört wurden, bis schließlich der Baumgeist ein Tuch zum Kessel schickte, dass diesen „eins, zwei, drei“ flickte.

Der Stoff, aus dem Geschichten sind

Wie oft kann man „alt“ eigentlich steigern? Darauf gab André Wülfing mit seiner Geschichte über einen Wanderer Auskunft, der auf einem einsamen Gutshof einen alten Mann um eine Übernachtungsmöglichkeit bat. „Ich bin nicht der Hausvater, geh zu meinem Vater“, antwortete der Mann. Der Wanderer bat daraufhin einem „noch älteren Mann“ um einen Schlafplatz, der ihn zu einem „steinalten“ Mann schickte, es folgte ein Mann, „älter als alt“, der nächste war „uralt“, bis schließlich ein „ur-ur-alter Mann“, der in einem Horn an der Wand lebte, ihm die Erlaubnis erteilte. Der Hausvater forderte ihn zu einer Kraftprobe heraus und war trotz seines Alters so stark, dass er aus einer Eisenstange Wasser herauspresste. Der Wanderer übernachtete und brach am nächsten Morgen auf. Als er sich umdrehte, war das Haus mit seinen alten und noch viel älteren Männern verschwunden. „Trotzdem erzählte der Mann die Geschichte in jedem Dorf weiter“, endete André Wülfing.

Zum Ende des Geschichtenreigens erzählten die drei Erzähler*innen die Geschichte von den drei Männern am Feuer in einer Hütte zu Ende: Nachdem alle Geschichten erzählt waren, schliefen die Männer und einer wachte. Der Schreiner entdeckte ein Stück Holz und schnitzte daraus eine Frauengestalt. Als der Schneider wachte, entdeckte er die Figur und schneiderte für sie kostbare Kleidung. Der Kaufmann schließlich legte ihr Schmuck an. „Ein Meisterwerk!“, sagte er zufrieden. Am nächsten Morgen stritten die drei erbittert über „ihre“ Frau, als sich diese plötzlich bewegte, sich Schmuck und Kleider vom Leibe riss und zur Hütte hinausging. Sie blieb an einem Baum stehen, der Stamm öffnete sich wie eine Tür und die Frau ging hinein. „Die Frau gehört niemandem außer sich selbst, denn sie ist Natur“, endete die Geschichte.

Zum Internationalen Erzählfest:

Entstanden ist das Internationale Erzählfest aus dem Projekt „Erzählwerkstatt“ der „Offensive Bildung“. In der „Offensive Bildung“ engagieren sich seit 2005 Wirtschaft, Spitzenverbände, Träger von Kindertagesstätten, Schulen, Wissenschaft und Fachpraxis gemeinsam für gute und vielseitige frühkindliche Bildung in den Kitas und Grundschulen in der Metropolregion Rhein-Neckar. Bis heute haben insgesamt 511 Kindertagesstätten, Grundschulen und pädagogische Fachschulen an den Projekten teilgenommen. Hierbei wurden über 4.000 pädagogische Fach- und Lehrkräfte geschult und 47.000 Kinder erreicht (Stand: 31. Dezember 2019).
Seit 2020 erweitert die BASF SE ihr Engagement für gelingende Bildungsbiografien der Kinder und Jugendlichen entlang der gesamten Bildungskette

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