Advent-Diagnose
19.12.2020

Advent-Diagnose

„Überall dreht man sich nur um sich selber, die Menschen beuten einander aus, fast sind wir uns gegenseitig zu Nummern geworden.“ – Das sagte der von den Nazis ermordete Alfred Delp 1941 und beklagte die Gottlosigkeit und Gottunfähigkeit der Menschen. Ist das nicht heute ganz genauso?

Eine Art Gottlosigkeit und Gottunfähigkeit in mir

„Advent und Widerstand“ hieß das Online-Seminar im Ludwigshafener Heinrich Pesch Haus. Der Referent Gotthard Fuchs, Philosoph, Pädagoge und Priester, sprach über das Erbe des vor 75 Jahren von den Nationalsozialisten ermordeten gebürtigen Mannheimer Alfred Delp. Delp war Priester und Jesuitenpater und dachte im Kreisauer Kreis mit Vertretern des widerständigen Deutschlands über eine Zukunft nach der Hitler-Herrschaft nach.

Alfred Delp erschrickt in seinen Adventspredigten des Jahres 1941 vor einer Gottlosigkeit und Gottesunfähigkeit in der Gesellschaft und Kirche. Überall dreht man sich nur um sich selber, die Menschen beuten einander aus, fast sind wir uns gegenseitig zu Nummern geworden. Delp hätte mit Greta Thunberg sagen können: „Ich will, dass wir panisch werden“. Als Delp wenig später im Berliner Gefängnis saß, verstand er seine Gefangenschaft wie die Situation der Menschheit als Ganze (nicht nur in Nazideutschland).

Der kommende Gott macht Hoffnung

Delp hat eine gute Gegengeschichte, Fuchs malt auch sie in seinem Vortrag mit kräftigen Bildern nach: In all dem Schrecken gibt es eine Sehnsucht, dass vielleicht doch Gott geboren wird. Vielleicht kann der Christ den kommenden Gott erfahren. Gott hat sich auf die Suche gemacht und jetzt ist er gar nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Wer ihn trifft, dem schlägt die Stunde der Freiheit, und der findende und gefundene Mensch kann der werden, der sie oder er ist. Die Zeit eines entwürdigenden Gottes, eines vereinnahmenden Gottes hat eine Lüge erzählt, genauso eine Lüge wie die Vorstellung von Freiheit als Willkür und Egozentrismus. Die Beziehung mit Gott legt nicht so sehr Wert auf Ordnung und Regel, sondern auf dialogisches Freiheitsgeschehen. Sie lässt entdecken, „die Welt ist Gottes so voll“, nicht nur die Natur, nicht nur der kleine Liebesraum, nicht nur die Kirche, die ganze Welt.

„Der Glaube an den menschgewordenen Gott ist alternativlos befreiend.“

Seine Widerstandskraft besteht darin, dass er nicht exkludiert, dass er nicht ausschließt. Dass alle, die ein wenig von den Seligpreisungen leben, selbstverständlich dazugehören (das geht viel weiter, als dass die anderen christlichen Konfessionen dazugehören). Dass der Glaube zur Hilfe in der Not der Menschheit drängt: „Die Ärmsten normieren uns, wenn wir Glauben leben“.

Alfred Delp © SJ-Bildarchiv

Der Mensch heute ist krank

Ich mache hier mal einen Stopp mit der Erzählung des Vortrags. Mit der Freiheit gehe ich mit, bin aber mit der Gottesgeburt oder Menschwerdung Gottes, welche die Grundlage der Freiheit sein soll, nicht so sicher. „Der Mensch heute ist krank“ ist Delps Diagnose, da solidarisiere ich mich gern mit den Menschen und mag es dennoch nicht, dass so über mich gesprochen wird.

Ich kann mit Delps Ausdrücken nicht richtig. Zum Beispiel: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die unverratene Treue und Anbetung.“ Was meint Delp mit Anbetung? Was bleibt da von Begegnung auf Augenhöhe? Was vom Einsatz für die Menschen? Mir kommt das Bild: Ein treuer Ritter sein und vor seiner Holden knien – das ist doch Kitsch.

Ich entschließe mich und frage nach. „Delp war doch solidarisch und Freund mit seinen Gefährten aus dem Kreisauer Kreis, die kennen doch die katholische Anbetung überhaupt nicht, was hat er damit gemeint?“ Gotthard Fuchs hatte vor meiner Frage schon mal eine Andeutung gemacht: „Anbetung ist nicht ein isolierter kultischer Akt, sie ist Gottesleidenschaft“. Jetzt antwortet er noch weiter in meinen Advent hinein:

Anbetung bedeutet, den Unterschied zwischen Gott und Mensch groß zu machen.

„Ich liebe dich, weil du du bist und nicht ich.“ Gott heiligen, die drei ersten Vaterunser-Bitten, tun uns gut, obwohl wir ganz von uns weggehen. Das Paradox der Liebe: Je mehr wir uns hingeben, desto mehr blühen wir auf. Die Sünde in der Paradieserzählung ist, dass die Menschen wie Gott werden wollen. Ja, so Fuchs, die Sünde ist, dass wir nicht Mensch werden wollen. Anbetung ist Widerstand, auch politischer Widerstand gegen die Mythen der Nationalsozialisten.

Mal sehen, wie es mit meinem Widerstand gegen den Widerstand in der Adventszeit weitergeht.

Zu Alfred Delp

Alfred Delp
Bild: SJ

Alfred Delp wächst in Mannheim und Lampertheim-Hüttenfeld auf und entscheidet sich nach seiner evangelischen Konfirmation für den Katholizismus. Nach dem Abitur wird er Jesuit, macht das Noviziat und studiert Philosophie. Er arbeitet als Erzieher im Internat des Jesuitenkollegs in Feldkirch und wird Präfekt am Jesuitenkolleg in St. Blasien. Nach dem Theologiestudium wird Alfred Delp 1937 zum Priester geweiht. Er ist in München als Kaplan tätig, wird ein begeisternder Redner und Prediger sowie Redakteur und Autor in der jesuitischen Monatsschrift „Stimmen der Zeit“, insbesondere zu sozialpolitischen Themen. 1941 wird diese Zeitschrift von den Nationalsozialisten verboten.

Im Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke arbeitete Delp im Geheimen an einem Modell für eine neue Gesellschaftsordnung nach dem Nationalsozialismus mit. Es brauche „die gründliche Änderung des Lebens“, damit der Mensch wieder „frei denken“ könne. Diese Diagnose kostete Alfred Delp das Leben. Am 28. Juli 1944 wird er von den Nationalsozialisten verhaftet, am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Als Erbe gibt er den Christen auf: „Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben.“

Dr. phil. Matthias Rugel SJ

Dr. phil. Matthias Rugel SJ

Schwerpunkte: Flüchtlingsarbeit, Religion und Spiritualität, Weltanschauungsfragen

Diplom-Mathematiker

Telefon: 0621 5999-365
E-Mail: rugel@hph.kirche.org

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Der Beitrag ist zuerst im Online-Magazin „Sinn und Gesellschaft“ erschienen.

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